Oder: Warum viele Unternehmen zwar keine Katze sind, aber einen Katzenzustand haben
Schrödingers Gedankenexperiment aus 1935 ist in die Geschichte eingegangen. Es stellte einen Ansatz aus der Quantenphysik der tatsächlich wahrnehmbaren Welt gegenüber. Die halb-, fast, nicht oder doch ganz tote Katze ist in vereinfachter – und leicht zweckentfremdeter Form – auch in die Populärkultur übergetreten. Das Setup: Eine Katze ist mit einem Atomkern in einer Schachtel eingesperrt. Der Atomkern zerfällt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50%. Und wenn er es tut, setzt er giftiges Gas frei, das die Katze tötet. Ob die Katze lebendig ist oder tot, weiß man erst, wenn man den Deckel öffnet und in die Schachtel schaut. Aus Sicht der Quantenphysik ist es möglich, dass ein System bis zur Messung zwei unterschiedliche Zustände zum selben Zeitpunkt aufweist – bis dorthin ist das Kätzchen also lebendig und tot zur selben Zeit.
Irgendwie halbtote Katzen im unternehmerischen Alltag
Dieses sinnbildliche Kätzchen verfolgt mich wie die Geister den kleinen Haley Joel Osment in The Sixth Sense. („Ich kann tote Katzen sehen!“) Das Problem, so paradox das zuerst klingen mag, ist dabei nicht mal das tote Kätzchen selbst, sondern die Schachtel, in der es liegt. Denn solange die uneröffnet bleibt, weiß niemand, dass die Katze tot ist. Und alles nimmt seinen Gang, als ob sie noch leben würde. Oft liegt schon ein ganzer Haufen unaufgefressenes Futter davor, und dennoch wagt es niemand, den Deckel zu öffnen, unter dem die Unternehmensstrategie liegt. Lebend oder tot.
Moment mal … Unternehmensstrategie? Was hat denn eine Unternehmensstrategie mit Schrödingers unliebsam behandeltem Pelztier zu tun?
… werden Sie jetzt vielleicht denken. Die Antwort: Mehr als man glaubt. Mein Ausgangspunkt lautet hier, dass niemand weiß, ob die Katze noch lebt oder bereits tot ist. Beim Katzenliebhaber und im Unternehmen ist vielleicht längst die Krise ausgebrochen – aber niemand schaut in die Schachtel. Deswegen merkt auch niemand, ob das Unternehmen eventuell bereits tot ist. Denn in Wahrheit ist das Problem meistens schon älter. Probleme mit der Unternehmensstrategie bilden den ersten Schritt in den allermeisten Krisensituationen, bleiben aber sehr häufig viel zu lange unerkannt. Warum?
Warum man den Deckel oft lieber zu lässt – und damit ein Risiko eingeht
Strategiearbeit ist kompliziert und aufwendig. Und löst immer die Sorge aus, dass sich Fehlentscheidungen durch die umfangreichen Effekte nachhaltig negativ auswirken oder unter Umständen frühere Fehler oder Versäumnisse sichtbar werden. Offenbar sind die Hemmungen, hier regulierend oder auch innovativ einzugreifen, sehr groß. Eine recht aktuelle Umfrage von Anfang 2019 zeigt, dass sich die falsche Zurückhaltung weitreichend eingebürgert hat: Drei Viertel (sic!) der deutschen Manager zweifelten etwa an der eigenen Strategie. Fast ein Drittel der Unternehmen nahm von sich selbst an, keine einzigartigen Kundenmehrwerte bieten zu können. Jedes fünfte Unternehmen hat gar keine wegweisende Strategie. Bei mehr als der Hälfte bestand außerdem keine Einigkeit darüber, was eigentlich die Kernkompetenzen des eigenen Unternehmens sind. (Vgl.: Strategy&-Umfrage vom Januar 2019.) Hier gibt es also ganz enormes Verbesserungspotenzial.
Eine weitere Herausforderung: Der Strategieprozess und seine Organisierung. Deloitte hat sich das genauer angesehen und die Rollen und gegenseitigen Erwartungen der verschiedenen Akteure betrachtet, die am Strategieprozess beteiligt sind. Die Ergebnisse sind zu vielschichtig, um sie hier auch nur ansatzweise zu präsentieren, aber einige Momente zogen sich durch die gesamte Erhebung: Kaum ein Knotenpunkt sieht seine Erwartungen in die jeweils anderen bestätigt. Offenbar besteht hier allgemein eine große Unklarheit, wer wofür verantwortlich zeichnet. Auffallend war auch, dass sich scheinbar niemand explizit um die Umsetzungsplanung kümmert. Besonders drastisch waren diese Ergebnisse, wenn die Strategien zusätzlich einen Change erfordern. Zusammenfassend zeigt sich, dass alle Beteiligten von fast jedem anderen Beteiligten mehr Engagement erwarteten. Fast ausnahmslos positiv war nur das Engagement der CEOs selbst bewertet.
Es ist aber klar – und dafür gibt es so viele Untersuchungen, dass es common sense sein sollte – dass die Strategie eines Unternehmens enorme Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg hat. Und dass die Unternehmen viel zu lange warten und Krisen erst erkennen oder auf sie reagieren, wenn diese schon sehr weit fortgeschritten sind. (Erschreckenderweise reagiert etwa ein Drittel der Unternehmen nicht mal, wenn bereits die Ertragskrise einsetzt. Da brennt es dann nicht mehr – sondern die Flammen sind schon von selbst am Versiegen und haben alles Brennbare bereits mitgenommen. Scheine brennen sehr gut.)
Der Interim Manager und der Katzenzustand
Kurzum: Viele – wenn nicht die meisten – Unternehmen kümmern sich zu selten und zu unstrukturiert um ihren „Katzenzustand“. Von einem Katzenzustand sprechen die Physiker hier übrigens, wenn eine Messung möglich wäre, die zeigen kann, ob die Katze tot oder lebendig ist. Wir Interim Manager finden uns in unseren Mandaten häufig in der Rolle der Person, die dafür zuständig ist, die Superposition – also unterschiedliche Zustände, die einander überlagern – aufzuheben. Den Schleier vom Strategieproblem zu heben. Und den Mörder zu finden.
Sehr oft sind es ähnliche Faktoren, die die Mietz vergiften: Suboptimale Kommunikation, unscharfe Verantwortlichkeiten, unklare Ziele, keine gute, bereichsübergreifende Zusammenarbeit, keine Konzentration auf die Kernkompetenzen, ein überholtes Geschäftsmodell. Dazu werden auch die Rahmenbedingungen, wie etwa Markttrends, nicht regelmäßig genug geprüft. Den Mörder gibt es sehr selten, meistens wird eine Kombination aus Faktoren wie den hier angegebenen schlagend. Zusätzlich hat der Strategieprozess immer wieder einfach keine vorgegebene, für alle Seiten transparente Struktur, weshalb solche Probleme noch dazu lange Zeit unentdeckt bleiben.
Jede einzelne „Station“ im Strategieprozess muss organisiert und strukturiert behandelt werden – Analyse des Marktumfeldes und des eigenen Unternehmens, Strategieentwicklung, Umsetzung samt Planung und Controlling der tatsächlichen Umsetzung und Zielerreichung – und für jedes Element, in das die einzelnen Stationen zerfallen, muss es eine Verantwortlichkeit, eine klare Zuständigkeit geben. Das klingt so einfach, wie einen Deckel von einer Schachtel zu heben, ist aber tatsächlich so schwer, wie den Tod eines liebgewonnenen Haustieres zu verdauen.
Den Karton offen lassen
Und weil das eben so schwierig ist, sollte man entsprechende Methoden einsetzen, die jeweils einen Rahmen vorgeben und einiges aus der Schwebe nehmen. Sehr praktisch kann hier etwa der Einsatz von Balanced Scorecards (BSC) sein, auch Objectives and Key-Results (OKR) oder regelmäßige, professionell durchgeführte Strategie-Reviews sind erfolgversprechende Zugänge. Am wichtigsten ist es vielleicht, die Katze nicht mehr unbeaufsichtigt zu lassen. Strategien müssen sich ändern, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Und das tun sie gerade – so wie sie es immer tun, inzwischen nur schneller. Dass ein Unternehmen heute eine Strategie, die es die letzten zehn Jahre verfolgt hat, nicht schon aus Prinzip neu überdenkt, mag deshalb nachgerade überraschen.
Die erfolgreichsten Unternehmen haben nicht nur passende Strategien, sie haben auch passende Methoden, um diese Strategien regelmäßig auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen und gegebenenfalls korrigierend einzugreifen. Eben weil man gerade eine strategische Krise schwer erkennt, wenn man nicht weiß, wie man suchen soll. Und weil eine Strategiekrise, wenn man nicht auf sie eingeht, fast immer den ersten Schritt ausmacht, der zu „handfesteren“ Krisenstadien führt.
Ein frühes Eingreifen ist allein schon deshalb ratsam, weil jede Lösung Handlungsspielräume benötigt – es muss ja immerhin etwas verändert werden. Je früher man eingreift, desto mehr Handlungsspielraum hat man und desto weniger kostet es. In manchen Fällen mag es sogar gelingen, aus der Not eine Tugend zu machen; aber eben nur, wenn es dafür noch ausreichend Bewegungsraum gibt. Im Zweifelsfall tut man immer gut daran, Spezialisten hinzuzuziehen – wenn es intern niemanden gibt, dann jemand Externen. Das etwa auch, wenn ein starker Fokus auf das Tagesgeschäft es nicht erlaubt, dazu noch komplexe Strategiearbeit zu leisten. Nichts ist schlimmer, als das arme Kätzchen unbeachtet verrotten zu lassen. Es könnte das ganze Geschäft mitnehmen. Und dabei hätte ein Interim Manager gerne für Sie in die Schachtel geschaut … und die Katze gepflegt, notfalls rechtzeitig reanimiert.
Und: Ja, natürlich weiß ich, dass das Gedankenexperiment um Schrödingers Katze so nicht direkt gemeint war. Aber dann hätte die Metapher nicht so gut funktioniert … Das Gruseligste an dieser Sache ist übrigens, dass die Nobelpreisträger von 2012, die Quantenoptiker Serge Haroche und David Wineland, es tatsächlich geschafft haben, die (beiden) Zustände zu messen, ohne dabei einen davon zu zerstören. Unter anderem ein wichtiger Durchbruch für die Entwicklung des Quantencomputers. Die sinnbildliche Katze ist also wirklich lebendig und tot gleichzeitig (!). Im Vergleich dazu erscheinen sogar komplexe, unternehmerische Probleme tatsächlich relativ einfach – denn für diese kann man Hilfe holen. Bei der Quantenphysik kann einem niemand helfen.